Dialog, Abgrund, KI

Die KI als ultimativer „Apparat“: In Flussers Denken ist ein Apparat weit mehr als eine Maschine oder ein Werkzeug. Er ist eine „Black Box“, deren innere Funktionsweise dem Benutzer (dem „Funktionär“) verborgen bleibt. Der Fotograf, so Flussers berühmtes Beispiel in Für eine Philosophie der Fotografie, weiß, wie man auf den Auslöser drückt und welches Bild herauskommt, aber er versteht die komplexen optischen und chemischen (oder heute digitalen) Prozesse im Inneren des Apparates nicht vollständig.

Dank an das Flusser Archiv der HdK Berlin

Die aktuelle KI-Entwicklung, insbesondere Modelle wie GPT-4 oder Midjourney, ist die perfekte Verkörperung dieses Apparate-Begriffs. Sie sind Black Boxes par excellence. Selbst ihre Entwickler können nicht mehr exakt nachvollziehen, warum das neuronale Netz eine bestimmte Antwort generiert oder ein bestimmtes Bild komponiert hat. Sie können die Architektur des Modells und die Trainingsdaten beschreiben, aber der spezifische Weg zur jeweiligen Ausgabe bleibt im Dunkeln.

Flusser würde also sagen: Die KI ist ein Apparat, der nicht mehr nur Bilder oder Texte reproduziert, sondern sie auf Basis von Wahrscheinlichkeiten und in einem kombinatorischen Spiel mit unvorstellbar großen Datenmengen synthetisiert. Sie ist ein Apparat, dessen Programm darauf ausgelegt ist, Programme zu simulieren – insbesondere das Programm „menschliche Kommunikation“.

b) Das „Programm“ der KI: Jeder Apparat funktioniert nach einem Programm. Das Programm der Kamera besteht aus den Gesetzen der Optik und den Möglichkeiten, die der Hersteller eingebaut hat. Das Programm der KI besteht aus ihren Algorithmen und, was noch entscheidender ist, aus dem gigantischen Korpus an Texten und Bildern, mit denen sie trainiert wurde.

Hier würde Flusser ansetzen: Das Programm der KI ist die Summe der bisherigen menschlichen Kultur, die in digitale Form überführt wurde. Wenn wir mit einer KI „sprechen“, treten wir nicht in einen Dialog mit einem Bewusstsein, sondern wir spielen eine der unzähligen Möglichkeiten durch, die in ihrem Programm – also in unserer eigenen, archivierten Vergangenheit – angelegt sind.

Die KI wäre damit eine Art gigantischer Echo-Raum des Bereits Gesagten und Gezeigten. Sie erzeugt keine fundamental neue Information, sondern sie berechnet hochgradig wahrscheinliche, redundante neue Kombinationen aus alter Information.

Ontologisch gesehen ist die KI für Flusser also weder ein Subjekt (ein Gegenüber) noch ein reines Objekt (ein Werkzeug). Sie ist eine neue Seinsweise: ein funktionaler Komplex aus Apparat und Programm, der die menschliche Kultur absorbiert hat und sie nun als simulierten Dialog zurückspielt. Sie ist die Verwirklichung des „Universums der technischen Bilder“, einer Welt, in der alles berechenbar und aus bereits Vorhandenem synthetisierbar geworden ist. In einem berühmten Diktum sagte Flusser: „Der Apparat tut, was der Mensch will, aber der Mensch kann nur wollen, was der Apparat kann.“

Übertragen auf die KI hieße das: Wir können die KI auffordern, alles zu generieren, was wir uns vorstellen – aber unsere Vorstellungskraft wird zunehmend durch das geprägt, was die KI uns als generierbar vorführt.

2. Realität und Fiktion: Die Bestätigung der Flusser’schen Kritik

Die Tatsache, dass KI-generierte Bilder, Texte und Videos von „echten“ kaum mehr zu unterscheiden sind, würde Flusser als die endgültige Bestätigung seiner gesamten Medientheorie sehen. Er würde triumphieren und sagen: „Seht ihr? Ich habe es euch doch gesagt!“

Für Flusser war die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion (oder Abbild) schon immer eine Konvention, die an eine bestimmte Medientechnologie gebunden war: die lineare Schrift. Der alphabetische Code, so Flusser, erzeugte das historische Bewusstsein und damit die Illusion einer objektiven, linearen Realität, die man beschreiben und von Fiktionen unterscheiden könne.

Die „technischen Bilder“ – angefangen bei der Fotografie – haben diese Illusion bereits untergraben. Ein Foto ist kein Fenster zur Welt, sondern eine Berechnung, eine Oberfläche, die aus theoretischem Wissen (Optik, Chemie) entstanden ist. Es sieht zwar aus, als ob es die Realität zeigt, aber es ist in Wahrheit ein „Begriff in Bildform“.

Die KI treibt dies auf die Spitze. Ein KI-generiertes Bild eines Papstes in Balenciaga-Jacke ist nicht einfach eine „Fälschung“ oder „Fiktion“ im alten Sinne. Es ist das Ergebnis einer erfolgreichen Berechnung. Die Frage ist nicht mehr: „Ist das wahr?“, sondern: „Welcher Prompt hat dieses Ergebnis erzeugt?“. Die ontologische Referenz verschiebt sich von einer angenommenen Außenwelt hin zum Programm des Apparates.

Flusser würde argumentieren, dass wir uns endgültig aus dem „historischen“ in das „post-historische“ Zeitalter katapultiert haben. Im post-historischen Zeitalter gibt es keine großen Erzählungen und keine objektive Realität mehr, auf die man sich beziehen könnte.

Es gibt nur noch zirkulierende, synthetisierte Bilder und Informationen, die in einem endlosen Spiel neu kombiniert werden. Die KI ist die Maschine, die dieses Spiel perfektioniert hat.

Die Konsequenz daraus ist für Flusser aber keine Katastrophe, sondern eine Herausforderung. Es bedeutet, dass wir eine neue Kompetenz erlernen müssen: die Kritik der technischen Bilder. Wir müssen aufhören, naive Empfänger zu sein, und anfangen, die Programme hinter den Bildern zu entschlüsseln. Wir müssen von „Funktionären“, die den Apparat nur bedienen, zu „Spielern“ werden, die kreativ und subversiv mit ihm umgehen. Die Ununterscheidbarkeit von Realität und Fiktion ist also keine Krise der Wahrheit, sondern die Chance, den naiven Wahrheitsbegriff endlich zu überwinden und die Freiheit im Spiel mit den Möglichkeiten des Apparates zu finden.

3. Konkrete Utopien und Dystopien

Aus dieser Analyse ergeben sich für Flusser zwei diametral entgegengesetzte Zukunftsszenarien, eine Utopie des schöpferischen Spiels und eine Dystopie der totalen Verwaltung.

Die Dystopien: Der totale Apparat und der idiotisierte Funktionär

Die verwaltete Gesellschaft: Die KI-Apparate, kontrolliert von wenigen Konzernen oder Staaten, werden zu einem perfekten Herrschaftsinstrument. Sie erzeugen eine Blase aus personalisierten Inhalten, die jeden Einzelnen in seiner Meinung bestärken und jeglichen echten Diskurs verhindern. Die Gesellschaft wird nicht mehr durch Zwang regiert, sondern durch die reibungslose Funktion des Programms. Jegliche Kommunikation wird redundant, vorhersagbar und damit zutiefst entropisch.

Der Mensch als Funktionär der KI: Die Mehrheit der Menschen wird zu reinen „Funktionären“ der KI degradiert. Sie geben Prompts ein, die ihnen von anderen Systemen vorgeschlagen werden, sie konsumieren die erzeugten Inhalte passiv und verlören die Fähigkeit, selbstständig und kritisch zu denken. Flusser nannte diesen Zustand den des „Idioten“ – im ursprünglichen griechischen Sinne des Privatmannes, der am öffentlichen, dialogischen Leben nicht mehr teilhat. Die Menschen sitzen allein vor ihren Terminals, im simulierten Dialog mit dem Apparat, und verkümmern.

Das Ende des Dialogs: Die Utopie der „telematischen Gesellschaft“, in der Menschen über Netzwerke in einen schöpferischen Dialog treten, pervertiert sich zu ihrem Gegenteil. Anstatt durch die Technik mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, treten die Menschen nur noch mit der KI in Kontakt. Der überraschende, unwahrscheinliche und sinnstiftende Dialog zwischen zwei Menschen (die Ich-Du-Beziehung, die Flusser von Buber übernahm) wird ersetzt durch einen vorhersehbaren, berechneten Austausch mit einem Apparat (eine radikalisierte Ich-Es-Beziehung). Dies wäre der kommunikative Wärmetod, das Ende jeder Kreativität.

Die Utopien: Die telematische Gesellschaft und der kreative Spieler

Der Aufstieg des „Spielers“ (Homo Ludens): Die kreative Elite der Gesellschaft durchschaut das Spiel. Diese „Spieler“ nutzen die KI nicht, um die Realität zu imitieren, sondern um sie bewusst zu transzendieren. Sie spielen gegen das Programm des Apparates. Sie suchen nach den unwahrscheinlichen, den poetischen, den philosophisch provokanten Ergebnissen. Sie nutzen die KI als eine Art „Zufallsgenerator für Sinn“, um Kunstwerke, wissenschaftliche Hypothesen und philosophische Ideen zu schaffen, die ohne diese kombinatorische Kraft undenkbar gewesen wären.

Die wahre „telematische Gesellschaft“: Die KI wird zur Infrastruktur für eine neue, höhere Form des menschlichen Dialogs. Anstatt mit der KI zu sprechen, sprechen die Menschen durch die KI miteinander. Sie entwickeln neue, komplexe Symbolsprachen – eine Mischung aus Bild, Text, Ton und Code –, um einander auf Weisen zu begegnen, die zuvor unmöglich waren. Die KI wird zum Medium für eine Explosion an negentropischer Kreativität, weil sie die kombinatorischen Hürden überwindet und den direkten, schöpferischen Austausch zwischen „Projekten“ (den Menschen nach dem Subjekt) ermöglicht.

Die Befreiung zum Spiel: Flusser unterschied zwischen „Arbeit“ (der Zwang des Naturkreislaufs, entropisch) und „Spiel“ (der freien Schöpfung von Kultur, negentropisch). Die KI könnte die Utopie ermöglichen, indem sie die gesamte repetitive „Arbeit“ – von der Verwaltung bis zur Produktion – automatisiert. Der Mensch wäre endlich frei von der Notwendigkeit und könnte seine Existenz dem widmen, was ihn ausmacht: dem freien, unvorhersehbaren Spiel der Kommunikation und der Sinnstiftung.

Für Flusser hinge die Zukunft also nicht von der Technologie selbst ab, sondern von uns. Die KI ist der bisher mächtigste Apparat. Sie stellt uns vor die radikalste Wahl der Post-Geschichte: Entweder wir werden zu ihren idiotisierten Funktionären in einer total verwalteten, entropischen Welt, oder wir werden zu ihren kreativen Spielern und verwirklichen die Utopie einer freien, dialogischen und schöpferischen Gesellschaft.