„Schaffe Schweigen!“ als praktische Rebellion
Kierkegaards Forderung nach Stille ist im digitalen Zeitalter kein Aufruf zum passiven Rückzug, sondern ein aktiver, ja rebellischer Akt der Selbstbehauptung gegen die aggressive Vereinnahmung durch die Aufmerksamkeitsökonomie. Der Imperativ „Schaffe Schweigen!“ ist eine direkte Aufforderung, die Mechanismen der ständigen Ablenkung bewusst zu durchbrechen. Praktisch würde dies heute bedeuten: Phasen digitaler Enthaltsamkeit, das gezielte Deaktivieren von Benachrichtigungen, das bewusste Kuratieren des eigenen Feeds nicht nach dem Kriterium der Viralität, sondern der Wahrheit und Substanz, und die aktive Kultivierung von Momenten der ungeteilten Aufmerksamkeit. Es geht darum, aus dem Modus des ständigen Sendens und Empfangens im Lärm auszubrechen und wieder ein Hörender zu werden. Wie Kierkegaard über das Gebet schreibt: „Als mein Gebet immer andächtiger und innerlicher wurde, da hatte ich immer weniger zu sagen. Zuletzt wurde ich ganz still…. ich wurde ein Hörender“.
Die Absage an den Klicktivismus zugunsten leidenschaftlicher Tat
Kierkegaards Forderungen sind somit eine Form der existenziellen Therapie. Jede seiner Forderungen – die Entscheidung für das Einzelnsein, der Sprung, das Schaffen von Stille, die Tat – ist ein direktes Gegenmittel zu einer spezifischen Pathologie der digitalen Öffentlichkeit. Der Einzelne kontert das Publikum; der Sprung des Glaubens kontert die lähmende Reflexion; die Stille kontert den Lärm; die leidenschaftliche Tat kontert das leere Gerede. Ein Leben nach Kierkegaard im digitalen Zeitalter zu führen, ist fundamental kontra-intuitiv zu den Anreizsystemen der Plattformen. Es erfordert eine bewusste Entscheidung gegen den Strom, die zwangsläufig zu digitaler Unsichtbarkeit oder sogar Anfeindung führen kann – ein Wagnis im wahrsten Sinne des Wortes.
Schlussfolgerung: Die ewige Wiederkehr des Phantoms
Das „Phantom“, das Kierkegaard beschrieb, hat seine Form geändert – vom bedruckten Papier zum leuchtenden Bildschirm, vom Redakteur zum Algorithmus. Doch die existenzielle Herausforderung, die es an die Menschheit stellt, bleibt dieselbe: die Flucht vor der Angst und der Verantwortung der Freiheit in die anonyme, nivellierende und letztlich bedeutungslose Geborgenheit der Menge. Kierkegaards berühmtes Gleichnis aus Entweder/Oder war nie aktueller: „In einem Theater brach hinter den Kulissen Feuer aus. Der Clown trat auf, um das Publikum zu warnen. Man hielt es für einen Witz und applaudierte. Er wiederholte es; der Beifall wurde noch größer. So, denke ich, wird die Welt zugrunde gehen: unter dem allgemeinen Beifall von geistreichen Köpfen, die es für einen Witz halten“. In einer digitalen Welt, die von viralen Memes, ironischer Distanz und der endlosen Jagd nach dem nächsten unterhaltsamen Reiz geprägt ist, laufen wir Gefahr, die Warnungen vor dem existenziellen Brand als bloßes Entertainment abzutun. Kierkegaards Werk ist somit kein verstaubtes historisches Dokument, sondern ein dringender, zeitloser Weckruf an „jenen Einzelnen“, der den Mut hat, den Lärm zu durchbrechen, den Applaus zu ignorieren und das Feuer ernst zu nehmen.