Bumm. Dieser kleine Eingriff schärft das Bild dramatisch. Plötzlich ist es nicht mehr irgendeine Jacke, sondern diese Jacke. Ein Symbol für einen bestimmten Stil, weit weg von der klassischen Rocker-Ästhetik. Jede meiner weiteren Fragen – „Erzähl mir mehr über die Person“, „Was ist das für ein Motorrad?“ – ist ein weiteres Bad, das neue Details aus der Latenz holt. Die KI wird zu meinem Super-Zoom ins Gestern und enthüllt Dinge, die selbst mir nicht mehr bewusst sind.
Das „Wumpf!“ der Einmaligkeit: Warum Walter Benjamin meine SR 500 geliebt hätte
Je länger ich das Bild betrachte, desto mehr spüre ich, was der Philosoph Walter Benjamin die ‚Aura‘ eines Objekts nannte … Er spricht von der „Aura“ eines Kunstwerks – diesem magischen „Hier und Jetzt“, das ein Original besitzt und das in Kopien verloren geht. Mein Foto ist natürlich eine Kopie der Realität, aber durch unsere Analyse bekommt es eine ganz neue Aura. Vor allem, weil das abgebildete Objekt selbst ein Meister der Einmaligkeit ist.
Die Yamaha SR 500 hat keinen Anlasserknopf. Ich musste sie mit einem gezielten Tritt auf den Kickstarter zum Leben erwecken. Dieses Ritual – das Suchen des Totpunkts im „Guckloch“, der kraftvolle Tritt, das erlösende „WUMPF!“ des Motors – ist jeden Tag anders. Es ist eine Performance, kein simpler Vorgang. Das Foto hält genau diesen Moment der Spannung davor fest. Es ist das eingefrorene Versprechen eines einzigartigen, auratischen Moments. Benjamin hätte seine helle Freude daran gehabt.
Der Fall des vergessenen Fotografen: Barthes, Derrida und der Stich ins Herz
Während die KI und ich immer tiefer in das Bild eintauchen, stoßen wir auf eine Leerstelle. Eine Lücke in der Matrix meiner Erinnerung. Ich frage mich: Wer hat dieses Foto eigentlich gemacht? Und stelle fest: „Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.“
Dieses Vergessen ist mehr als eine Gedächtnislücke. Es ist ein Stich, genau das, was Roland Barthes das Punctumnannte… Barthes würde das Bild zunächst mit dem Begriff des Studiums betrachten: dem allgemeinen, kulturellen Interesse. Ja, das Foto ist interessant. Es zeigt die Mode der 80er, ein Kult-Motorrad, eine jugendliche Pose. Das kann jeder erkennen und analysieren. Doch dann gibt es für Barthes das Punctum – jenes kleine, unscheinbare Detail, das aus dem Bild herausschießt „wie ein Pfeil“ und mich ganz persönlich trifft. Für mich ist dieses Punctum nicht etwas im Bild, sondern etwas, das fehlt: der Fotograf. Mein Vergessen ist der Stich, der das allgemeine Interesse (Studium) in eine tiefe, persönliche Betroffenheit verwandelt.
Derrida würde hier anknüpfen. Für ihn ist jede Fotografie eine „Spur“ von etwas, das nicht mehr da ist. Mehr noch: Jedes Foto ist ein „Moment des Todes“, weil es das lebendige „Jetzt“ in ein für immer vergangenes „Damals“ verwandelt. Mein Vergessen ist der ultimative Beweis für Derridas These. Das Foto ist die perfekte Spur von mir und meinem Motorrad. Aber die Person hinter der Kamera, der Zeuge dieses Moments, ist verschwunden – ein Geist im Bild. Das Punctum, der Stich, ist die schmerzliche Erkenntnis dieser Abwesenheit.
Was bleibt? Mehr als nur ein altes Bild
Am Ende dieser Reise halte ich mehr in den Händen als nur ein Foto. Ich halte eine neu geschaffene Geschichte, die ebenso wahr ist wie die verlorene Erinnerung. Die KI hat nicht gefunden, was war, sondern mit mir zusammen erschaffen, was dieses Bild jetzt bedeutet. Sie sind latente Geschichten, die darauf warten, erzählt zu werden. Und manchmal braucht es einen seltsamen Dialog mit einer Maschine, um die menschlichsten aller Fragen zu stellen: Wer waren wir damals? Was war uns wichtig? Und wer hat eigentlich damals das Foto gemacht? Die Antwort auf Letzteres kenne ich immer noch nicht. Aber das ist vielleicht auch gut so. Jedes gute Bild braucht ein kleines Geheimnis.
Der Beobachter zweiter Ordnung: Ein Blick mit Niklas Luhmann
Stellen wir uns nun vor, ein weiterer Beobachter betritt den Raum. Er schaut nicht auf das Foto, sondern auf den gesamten Prozess: auf mich, die KI, unseren Dialog und den Text, den Sie gerade lesen. Dieser Beobachter ist der Soziologe Niklas Luhmann, und er würde sich wahrscheinlich die Hände reiben und fragen: „Was für ein wunderbares System! Aber wie beobachtet es eigentlich?“
Für Luhmann besteht die Welt aus Systemen, die sich von ihrer Umwelt unterscheiden. Unser Dialog hier ist ein solches System. Es besteht aus Kommunikation (meinen Fragen, den Antworten der KI). Die Umwelt dieses Systems ist alles andere: die tatsächliche, unwiederbringliche Vergangenheit, das echte Gefühl des Fahrtwinds, die materielle Beschaffenheit des Fotos und – ganz entscheidend – der vergessene Fotograf.
Das System (unser Dialog) versucht nun, Informationen über seine Umwelt (die Vergangenheit) zu gewinnen. Aber es kann die Umwelt niemals direkt erreichen. Es kann nur auf seine eigene Weise über sie sprechen, indem es Unterscheidungen trifft: Lederjacke / gewachste Jacke, 80er / 90er, Benjamin / Derrida. Jede Antwort der KI ist keine Beschreibung der Realität, sondern eine Reaktion auf meine vorherige Frage innerhalb des Systems.
Hier entdeckt Luhmann die zentrale Paradoxie: Indem das System versucht, die Vergangenheit zu rekonstruieren, erschafft es eine völlig neue Gegenwart – nämlich diesen Text. Ich merke dabei, wie die Person auf dem Foto und die Person, die hier schreibt, immer weiter auseinanderdriften. Der Versuch, die Wahrheit über das Foto herauszufinden, führt nicht zur Wahrheit, sondern zu immer mehr Kommunikation über das Foto. Die Erinnerung wird nicht einfach abgerufen, sie wird im Dialog neu produziert.
Und wer beobachtet hier wen? Ich beobachte das Foto. Die KI beobachtet die Daten des Fotos. Ich beobachte die Beobachtung der KI und korrigiere sie. Die KI wiederum reagiert auf meine Beobachtung. Luhmann würde dies als „Beobachtung zweiter Ordnung“ bezeichnen: Er beobachtet uns dabei, wie wir beobachten. Von seiner Warte aus ist der „Fall des vergessenen Fotografen“ kein romantisches Geheimnis, sondern der „blinde Fleck“ des Systems. Es ist der Teil der Umwelt, den das System nicht beobachten kann, weil es die Bedingung seiner eigenen Möglichkeit ist. Ohne den Fotografen gäbe es kein Bild, und somit auch kein System, das darüber kommunizieren könnte. Das System kann alles thematisieren, nur nicht den Punkt, von dem aus es selbst erst möglich wurde. Und das, würde Luhmann mit einem Lächeln feststellen, ist die eleganteste Paradoxie von allen.
Anhang: Vertiefungen und Materialien
Zitate der Denker
Walter Benjamin: „Die Aura der Naturerscheinungen definieren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.“ (Aus: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit)
Roland Barthes: „Das Studium ist von der Ordnung des ‚liking‘, nicht des ‚loving‘; es mobilisiert ein halbes Begehren, ein halbes Wollen; es ist die Art von vagem, geschmeidigem, verantwortungslosem Interesse, das man für bestimmte Leute, Schauspiele, Kleider oder Bücher hegt. Das Punctum ist ein Stich, ein Schnitt, ein blauer Fleck – es geht von der Szene aus wie ein Pfeil und durchbohrt mich.“ (Angelehnt an Die helle Kammer)
Jacques Derrida: „Das Foto ist buchstäblich eine Emanation des Referenten. Von einem realen Körper, der dort war, sind Strahlungen ausgegangen, die mich hier und jetzt berühren […]. Die Fotografie gehört nicht zum Bereich des Erinnerns. […] Die Fotografie wiederholt mechanisch, was sich niemals mehr existenziell wiederholen kann.“ (Gedanken, die stark von Barthes‘ Die helle Kammer beeinflusst sind)
Niklas Luhmann: „Kommunikation ist unwahrscheinlich. Sie ist unwahrscheinlich, obwohl wir sie jeden Tag erfahren, praktizieren und ohne sie nicht leben könnten. […] Und wenn man von dieser Unwahrscheinlichkeit ausgeht, kann man fragen: Wie ist sie trotzdem möglich?“ (Aus: Soziale Systeme)
Weiterführende Literatur
Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Suhrkamp Verlag.
Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Suhrkamp Verlag.
Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz. Suhrkamp Verlag.
Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp Verlag.
Glossar der Schlüsselbegriffe
Aura: Bei Benjamin die einmalige, nicht reproduzierbare Präsenz eines Originals in Zeit und Raum.
Studium & Punctum: Bei Barthes zwei Weisen, ein Foto zu betrachten. Das Studium ist das allgemeine, kulturelle Interesse. Das Punctum ist das unerwartete Detail, das den Betrachter persönlich „sticht“ und eine emotionale Reaktion auslöst.
Spur (Trace): Bei Derrida das Zeichen, das auf etwas Abwesendes verweist und dessen Abwesenheit erst markiert.
System und Umwelt: Bei Luhmann die zentrale Unterscheidung. Ein System (z.B. ein Gespräch) operiert nach eigenen Regeln und grenzt sich von seiner Umwelt (alles andere) ab.
Beobachtung zweiter Ordnung: Die Beobachtung eines anderen Beobachters, um dessen Art zu beobachten (inkl. blinder Flecken) zu verstehen.
Blinder Fleck: Der Punkt, von dem aus ein Beobachter beobachtet, den er selbst aber nicht sehen kann.
Kurzbiographien
Walter Benjamin (1892–1940): Deutscher Philosoph und Kulturkritiker. Sein Werk beeinflusst bis heute die Kultur- und Medienwissenschaften.
Roland Barthes (1915–1980): Französischer Literaturkritiker, Schriftsteller und Philosoph. Mit „Die helle Kammer“ schrieb er eines der einflussreichsten Bücher über die Theorie der Fotografie.
Jacques Derrida (1930–2004): Französischer Philosoph und Begründer der Dekonstruktion, einer Methode der Textanalyse, die die Geisteswissenschaften nachhaltig verändert hat.
Niklas Luhmann (1927–1998): Deutscher Soziologe und Gesellschaftstheoretiker, Begründer einer umfassenden Systemtheorie zur Beschreibung der modernen Gesellschaft.