Das Phantom im Feed: Kierkegaard und Soziale Medien

Der Tik-Tok-Algorithmus stellt die technologische Vollendung dieses Phantoms dar. Er ist eine unsichtbare, noch abstraktere Macht, die den Informationsfluss nicht nach Kriterien der Wahrheit, sondern zur Maximierung der Nutzerbindung kuratiert. Der algorithmisch erzeugte Feed wird so zu einem neuen, unsichtbaren Publikum, das im Verborgenen über Relevanz und Sichtbarkeit entscheidet. Das Individuum, das sich in dieser Flut auflöst, wird, wie Kierkegaard es formulierte, zu einem „unbeteiligten Dritten“.

Die Mechanik der Nivellierung in der Aufmerksamkeitsökonomie

Die primäre Tätigkeit dieses Publikums ist die „Nivellierung“ – die Einebnung aller qualitativen Unterschiede. Es ist der „Sieg der Abstraktion über die Individuen“. In der Aufmerksamkeitsökonomie des 21. Jahrhunderts wird dieser Prozess zum zentralen Funktionsprinzip. Nicht Tiefe oder Komplexität werden belohnt, sondern Inhalte, die durch Provokation starke emotionale Reaktionen hervorrufen. Virale Trends dominieren, weil sie das System am effektivsten mit der Währung der Aufmerksamkeit versorgen. Die Einzigartigkeit des Individuums wird durch eine quantitative Logik der Klicks ersetzt.

Der Lärm der Kommunikation und die Notwendigkeit der Stille

Kierkegaard diagnostizierte eine Entwicklung, bei der die Kommunikationsmittel ein Maximum an Geschwindigkeit erreichen, während der Inhalt auf ein Minimum an Bedeutung schrumpft. „Was hat denn eine größere Verbreitung als: Gequatsche!“, schrieb er. Der „Infinite Scroll“ ist die ultimative Realisierung dieses Lärms. Die permanente Reizüberflutung ist kein Nebeneffekt, sondern das Kernprodukt der Plattformen. Sie verhindert die Konfrontation mit sich selbst.

Kierkegaards Forderung „schaffe Schweigen! gebiete Schweigen!“ ist daher im digitalen Zeitalter kein Plädoyer für einen passiven Rückzug, sondern ein existenzieller Akt der Selbstbehauptung. Es ist der bewusste Entschluss, die Mechanismen der ständigen Ablenkung zu durchbrechen, um wieder ein Hörender zu werden. Denn die Antwort auf die nivellierende Kraft der Masse liegt für Kierkegaard stets bei „jenem Einzelnen“, der den Mut zur authentischen Existenz aufbringt.

Der Ruf an „den Einzelnen“: Das Selbst als letzte Bastion

Angesichts der Auflösung des Subjekts in der digitalen Masse würde Kierkegaard heute mit noch größerer Dringlichkeit an „jenen Einzelnen“ appellieren. Der Einzelne ist für ihn die entscheidende Kategorie, die Wahrheit und die letzte Bastion gegen die Unwahrheit der Menge. Denn nur der Einzelne kann glauben, lieben und Verantwortung für seine Existenz übernehmen. Dieser Imperativ zur subjektiven Aneignung der Wahrheit steht im schärfsten Kontrast zur passiven Übernahme von Meinungen und Trends aus dem algorithmisch kuratierten Feed. Kierkegaards Maxime „Das Große ist nicht, dass einer dies oder jenes ist, sondern dass er es selbst ist“ , ist die ultimative Absage an eine Identitätsbildung, die auf der flüchtigen Bestätigung durch ein anonymes digitales Publikum beruht.

Der Sprung des Glaubens in einer Welt der Avatare

Ein Kierkegaard’scher „Sprung“ würde im digitalen Zeitalter bedeuten, das Wagnis der authentischen, unperfekten und ungesicherten Existenz einzugehen, selbst wenn dies die Missbilligung oder, schlimmer noch, die Ignoranz des digitalen Publikums zur Folge hat. Sein berühmtes Diktum „Wagen heißt, für einen Augenblick den Halt verlieren. Nicht wagen heißt, sich selbst verlieren“ , gewinnt hier eine neue Dringlichkeit. Der Sprung ist ein Akt leidenschaftlicher Entscheidung, der sich nicht durch die Reflexion der Likes und Kommentare absichern lässt. Im digitalen Kontext bedeutet dieser Sprung, sich von der Sucht nach Bestätigung zu befreien , den Zwang zur ständigen Selbstoptimierung aufzugeben und die „Fear Of Missing Out“ (FOMO) zu überwinden, die einen an den endlosen Strom des Belanglosen kettet. Es ist der Sprung aus der virtuellen Repräsentation des Avatars in die gelebte, widersprüchliche Realität. Denn, so Kierkegaard, „[d]ie höchsten und schönsten Dinge im Leben soll man nicht hören, nicht lesen, nicht sehen, sondern, wenn man so will, leben“.