Teil I: Die verkörperte Wirkursache – Der Künstler als ungeteilter Akteur
Im traditionellen Schaffensakt – dem Maler vor seiner Leinwand – ist der Künstler die unbestrittene und ungeteilte causa efficiens. Seine Wirkmacht beschränkt sich jedoch nicht auf den ersten Pinselstrich. Sie durchdringt den gesamten Prozess der materiellen Formgebung. Jeder Handgriff, jede Bewegung des Pinsels ist ein fortwährendes Wirken, das die Formursache (die Idee des Hauses) in der Stoffursache (Farbe und Leinwand) aktualisiert.
Dieser Prozess wird durch die techne des Künstlers geleitet, ein von Aristoteles als „auf wahre Vernunft gegründetes Vermögen des Hervorbringens“ beschriebenes Konzept. Diese techne ist kein abstraktes Wissen, sondern eine verkörperte Fähigkeit, die sich aus Erfahrung, Intuition und physischer Übung speist. Die Hand des Malers, die den Pinsel führt, ist keine bloße instrumentelle Ursache (causa instrumentalis) wie der Pinsel selbst; sie ist die unmittelbare Verlängerung der Hauptursache (causa principalis), des Künstlers in seiner Gesamtheit.
In diesem Akt entsteht eine unauflösliche Feedbackschleife: Das Auge sieht, was die Hand tut, der Geist bewertet das Ergebnis, und die Hand korrigiert oder setzt fort. Jede Farbmischung, jede Textur, jeder noch so kleine Fehler ist ein Ausdruck der Individualität des Schöpfers und fließt direkt in das werdende Werk ein. Die causa efficiens ist hier nicht nur ein Anstoß, sondern ein permanenter, dialogischer und materieller Gestaltungsprozess. Der Künstler und der Akt des Machens sind eins; das Werk kann von diesem verkörperten, individuellen Prozess nicht abgekoppelt gedacht werden.
Teil II: Der entkörperlichte Befehl und die fragmentierte Ursache
Der Befehl „Zeichne ein Haus“ an eine KI zerlegt diese Einheit. Die causa efficiens erscheint nun fragmentiert und auf ein komplexes Netzwerk verteilt: die Entwickler, die den Algorithmus schufen; der riesige Datenkorpus, der als passive Stoff- und Formursache dient; der Algorithmus selbst als unmittelbare instrumentelle Ursache; und schließlich der menschliche Nutzer als anstoßgebende Ursache.
Die entscheidende Veränderung liegt in der Natur der menschlichen Wirkmacht. Der Nutzer ist nicht mehr derjenige, der das Werk physisch hervorbringt. Seine Handlung ist auf den sprachlichen Befehl (den Prompt) und die anschließende Auswahl aus den generierten Optionen reduziert. Der unmittelbare Prozess des Herstellens, die sensible Interaktion zwischen Hand, Werkzeug und Material, wird an eine „Black Box“ ausgelagert. Die techne des Malers wird durch die Fähigkeit des „Prompt Engineering“ ersetzt – eine intellektuelle, aber entkörperlichte Kompetenz.
Der kreative Akt verlagert sich von der kontinuierlichen materiellen Formung hin zu diskreten Momenten der Initiation und Kuration. Der Nutzer agiert weniger als Handwerker denn als Regisseur, der Anweisungen gibt und das beste Ergebnis auswählt. Diese Distanz zum Herstellungsprozess ist fundamental. Während der Maler mit jedem Pinselstrich seine Individualität in das Werk einschreibt, liefert der KI-Nutzer einen Impuls und erhält ein probabilistisches Ergebnis zurück, das auf den Mustern von Millionen fremder Werke basiert. Die intime, physische Verbindung zwischen Schöpfer und Schöpfung wird durch eine Schnittstelle ersetzt.
Teil III: Die Souveränität des Zwecks – Der Mensch als letzte Instanz
Trotz dieser Fragmentierung und Entkörperlichung bleibt der Mensch die entscheidende Wirkursache im vollen aristotelischen Sinne. Der Grund dafür liegt in der vierten und wichtigsten Ursache: der Zielursache (causa finalis). Aristoteles betrachtet den Zweck oder das Ziel (telos) als die „Ursache der Ursachen“, denn sie ist es, die den gesamten Prozess lenkt.
Die KI als System operiert a-teleologisch; sie hat keine eigenen Ziele, keinen Willen und keine Intention. Ihr Output ist das Ergebnis statistischer Wahrscheinlichkeiten, nicht eines Strebens nach einem Zweck. (Im Idealfall) Folglich kann der telos für das Kunstwerk nur vom Menschen kommen. Der Prompt ist die Formulierung dieses Ziels, und der Akt der Auswahl aus den generierten Bildern ist die finale Bestätigung, dass dieses Ziel erreicht wurde.
In diesem Akt der Setzung und Bestätigung des Zwecks konstituiert sich der Mensch als die souveräne causa efficiens. Er ist das ordnende Prinzip, das die technologischen Komponenten auf ein Ziel ausrichtet und durch seinen Willensakt ein bestimmtes Werk aus einem Meer von Möglichkeiten ins Dasein ruft. Die Wirkursache wird in der Person des Nutzers wiedervereinigt, weil er der alleinige Träger der Zielursache zu sein scheint.
Dennoch bleibt der qualitative Unterschied bestehen. Der Maler, der sein Haus mit dem Pinsel erschafft, ist eine verkörperte causa efficiens, deren Wirken sich im direkten, materiellen Kontakt mit dem Werk vollzieht. Der KI-Nutzer ist eine befehlende causa efficiens, deren Wirken in der Setzung eines Ziels und der Auswahl eines Ergebnisses besteht. Im ersten Fall ist die Verbindung zwischen Schöpfer und Werk physisch, unmittelbar und untrennbar. Im zweiten Fall ist sie intellektuell, vermittelt und distanziert.
Schlussfolgerung
Die Gegenüberstellung des Malens mit einem Pinsel und des Generierens per Befehl offenbart zwei fundamental verschiedene Modi der causa efficiens. Der traditionelle, handwerkliche Prozess zeigt den Menschen als eine verkörperte Wirkursache, deren individuelle techne und physische Präsenz sich untrennbar in das Werk einschreiben. Der KI-gestützte Prozess positioniert den Menschen als eine entkörperlichte, befehlende Wirkursache, die ihre Souveränität aus ihrer exklusiven Verfügung über den Zweck (telos) des Werkes bezieht.
Die Künstliche Intelligenz löst den Menschen also nicht als primären Urheber ab. Sie verändert jedoch radikal die Art und Weise, wie er diese Urheberschaft ausübt. Sie entkoppelt die Intention vom unmittelbaren Akt des Machens und ersetzt die intime, physische Auseinandersetzung mit dem Material durch einen Akt der sprachlichen Anweisung und der kuratorischen Auswahl. Damit bleibt die aristotelische Analyse gültig, aber sie zwingt uns zu einer präziseren Unterscheidung: Es ist nicht dasselbe, die Ursache der Bewegung eines Pinsels in der eigenen Hand zu sein oder die Ursache für die Aktivierung eines Algorithmus auf einem fernen Server. In dieser Differenz liegt die Essenz dessen, was sich im menschlichen Schaffen durch die KI unwiderruflich verändert.
Diese Unterscheidung lässt sich direkt auf die Herstellung von Texten übertragen. Der Autor, der seine Sätze selbst formuliert, befindet sich in einem ständigen, unmittelbaren Dialog mit der Sprache. Jede Wortwahl, jeder Satzbau ist eine direkte Manifestation seiner verkörperten techne und seines individuellen Denkprozesses. Er ist die ungeteilte, physisch wirkende causa efficiens des Textes. Im Gegensatz dazu agiert der Nutzer eines KI-Textgenerators als befehlende Wirkursache. Er gibt das Ziel (telos) vor – „Schreibe einen Absatz über…“ – und kuratiert das Ergebnis. Der granulare, oft mühsame Prozess der Formulierung wird ausgelagert. Seine Urheberschaft gründet sich auf die initiale Intention und die finale Auswahl, nicht auf den unmittelbaren Akt des Schreibens. Wie beim Maler und seinem Pinsel, so wird auch hier die intime, direkte Verbindung zwischen Schöpfer und Schöpfung durch eine vermittelte, befehlende Beziehung ersetzt.
Quellenangaben
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